VEDRAN - Eine Osijeker Chronik

[Zlatan]

Im Herbst 2006 ereignete sich an einem Nachmittag in Osijek ein relativ unbedeutender Vorfall: Der zweite Kellner der Cafébar Triton, Zlatan, saß an einem Tisch in der leeren, schwach beleuchteten Bar und arbeitete nicht. Eigentlich saß er auch nicht, sondern hielt sich krumm und wacklig über den Tisch gebeugt. Zudem versuchte er so zusammenhängend und gestenreich wie möglich auf Zoran, den ersten Kellner der Bar, einzureden. Zoran saß ihm angespannt gegenüber, versuchte so wenig wie möglich Reaktionen zu zeigen, sorgte sich um die Standfestigkeit des Tisches. Zlatans heftig bewegte Rede war ihm körperlich unangenehm, wie dieser mit dem Armen fuchtelte und mehr bellte als sprach. Zlatan beschwerte sich über seine schlechte Bezahlung in der Bar. Er beschwerte sich wortreich, gestenreich, lautstark, redete mit viel Speichel und nicht immer verständlich und wies Zorans Einwurf überhaupt nicht zurück, dass er betrunken sei. Im Gegenteil, er blickte Zoran fest an und verlange von ihm ein weiteres Bier, dazu Wodka mit Zitrone. Zoran schaute dem vorgebeugten Zlatan in die geröteten Augen und stellte fest, dass hier sich einer vor ihm aufgerichtet hatte, der es ernst meinte. Aber er zögerte, wartete auf etwas. Er habe schließlich zu arbeiten und die Wünsche der Gäste zu erfüllen, rief Zlatan und beugte sich weiter vor. Zoran wartete. Er ginge jetzt sofort besser hinter den verdammten Thresen, seine kellnerische Pflicht zu tun, schrie Zlatan, spuckte die Worte in Zorans Gesicht. Zoran wartete. Dann, bevor der Betrunkene ausholen konnte, hielt er dessen Hand fest und sagte leise, er führe sich auf wie ein Vollidiot, und bereitete die Getränke. Bin ich auch, dass ich hier arbeite, sah ihm Zlatan kaum nach, blieb über den Tisch gebeugt, starrte in den niedrigen Gastraum, kramte eine Zigarette hervor. Er atmete den Rauch ein, hielt ihn sekundenlang in seiner Lunge, blies den Rauch in den Lichtkegel einer Lampe, spuckte aus. Dann zerdrückte er die Zigarette im Aschenbecher, geriet ins Wanken und warf ein Glas um. Er sah dem Glas beim Fallen, Aufschlagen und den Scherben beim Umherfliegen zu. Jebiga, sagte er.

Zlatan war ein junger Mann Anfang 20, vermutlich Student an der Osijeker J.J.Strossmayer-Universität, der für ein unterstützendes Zubrot im Triton arbeitete. Über seine Lebensumstände war relativ wenig bekannt. Er war eines Apriltages in der Bar erschienen, sagte, er könne hervorragend kellnern, ob man hier keinen zweiten Kellner bräuchte. Zoran brauchte in der Tat, sein bisheriger Mitarbeiter war nach Istrien verschwunden, arbeitete sich dort den Sommer über halbwegs reich. Der Besitzer der Bar, Ivica, drehte sich auf einem schwarzen Barhocker zu Zlatan um und fragte ihn geradewegs, wo er herkäme. Zlatan zögerte nicht: er sei aus Virovitica und lebe dort mit seiner Mutter und zwei Geschwistern allein, der Vater sei im Krieg bei Požega gefallen, jetzt suche er eine Arbeit, um nicht auf die schmale Hinterbliebenenrente angewiesen zu sein, die sowieso demnächst auslaufen würde. Ivica erhob sich, auf einen Gehstock gestützt, tat einen hinkenden Schritt in Zlatans Richtung und musterte ihn. Nun, Zlatan aus Virovitica, sagte er langsam, deine unbezahlte Probezeit von einem Monat beginnt Mittwoch Nachmittag, dann schritt er hinkend an ihm vorüber zur Toilette. Und so wurde Zlatan Kellner in Osijek. Er kam stets pünktlich, ordentlich gekleidet und geduscht, arbeitete zuverlässig, auch das Trinkgeld ließ er weisungsgemäß bei den Einnahmen in der Kasse. Ivica kam gelegentlich vorbei und schaute seiner Arbeit zu. Er kam nie allein, immer in Begleitung von einem oder mehreren Freunden, die sich im Eingangsbereich der Bar niederließen und plauderten. Auch seine Freundin Ljiljana brachte er zuweilen mit und präsentierte sie Zlatan, der sich vor ihr verbeugte. Nach fünf Wochen bekam er einen Arbeitsvertrag und nach acht Wochen sein erstes Gehalt bar ausgezahlt. Zoran und Zlatan arbeiteten abwechselnd vormittags und nachmittags, ab 9Uhr öffnete die Bar und sie schloss erst hinter dem letzten Gast, jedoch nie vor 23Uhr. Zlatan erzählte wenig über sich, klagte nicht, redete mit den Gästen nicht übermäßig, brachte keine eigenen Freunde in die Bar, ließ sich von Ivica nie mit dem Auto nach Hause fahren. Dennoch erfuhr Ivica seinen Wohnort, ein Zimmer in einem Studentenwohnheim des Jug Dva, dem Plattenbauviertel der Stadt. Eine Freundin scheine Zlatan nicht zu haben, berichtete einer von Ivicas Freunden, jedenfalls nicht in den letzten 5 Wochen, nicht auszumalen die Schmerzen in seinen Eiern, falls er welche habe, grinste dieser.

Zoran kehrte an den Tisch zurück, stellte Bier und Wodka ab, hielt Zlatan Handfeger und Kehrschaufel hin. Was soll das, rief Zlatan, müssen bei dir die Gäste auch schon arbeiten? Du bist kein Gast, sagte Zoran. Für das Bisschen, das ich hier kriege, mach ich gar nichts, griff Zlatan zum Bier. Ich hab keine Lust, mit dir zu streiten, wisch den Scheiß jetzt auf, sagte Zoran. Zlatan trank das Bier aus, knallte das Glas auf den Tisch, schüttete den Wodka in sich hinein, knallte auch dieses Glas hin. Pause. Ah jebise, fluchte Zoran, wischte den Scheiß selbst auf und setzte sich. Ich kann dir nicht mehr zahlen, das weißt du.
Zlatan rief, er könne mit den beschissenen 2000 Kuna in dieser beschissenen Stadt einfach nicht leben, das sei verdammt nochmal zu wenig, jebote, angesichts einer Miete von über 1000 und die andere Hälfte geht für nichts in zwei Wochen drauf, da hat man kaum genug zu fressen, ob er ihm mal erklären könne, wie man von sowas leben soll, er bräuchte einen weiteren Tausender etc jebem ti sunce. Das müsse ihm doch klar sein, von diesem Geld kann man einfach nicht einen Monat lang leben, er könne ja selbst mal wochenlang nur Brot und Wasser fressen und saufen, dieses stinkende, ekelhafte Osijeker Wasser, von dem man Ausschlag bekäme. 2000 Kuna, nicht einmal 300 Euro, ein Scheiß, ob er ihm ein verdammtes Land nennen würde, in dem man mit so wenig leben könne, ein Monat Arbeit für 2000 verfickte Kuna, am Arsch. Leben kann er das hier in dieser verfickten Scheiße nicht nennen, eher den beschissenen Versuch zu überleben in einem Land, um das er nicht gebeten habe.
Zoran verbat sich diesen Ton, wütend.

In etwa diesem Moment bin ich in die Bar gekommen. Ein verwildert wirkender Zlatan bestürmte mich, wieviel ich verdienen würde. Ich verstand ihn erst kaum, er wiederholte die Frage, ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte und nannte ihm eine Summe, woraufhin er Zoran rechthaberisch anfuhr, da könne er sehen, was er meine, mit mehr Kohle könne man sich was aufbauen, mit Kind und Wohnung und allem, wenn man möchte. Zoran schaute mich verächtlich an, fragte was ich wollte. Ein großes Karlovačko, verzog ich mich an einen der hinteren Tische. Das Gespräch ging erhitzt weiter, ich hörte weg so gut ich konnte. Ich konnte schlecht. Zlatan verlangte, dass Zoran bei Ivica nach mehr Geld fragen sollte, der Laden liefe doch ganz ok, und kein halbwegs denkender Geschäftsmann des Balkans besäße nur eine einzige popelige Bar, von der er sich ernähren müsse, er solle sich nur anschauen, was der Typ für ein Auto hätte, von scheiß 2000kn bekäme er das nicht. Zoran sagte, dass es völlig egal sei, was irgendwer für Autos fahre, solange er hier seine Arbeit mache und nicht besoffen wie ein Pferd in der Bar herumbrülle, würde der Laden auch mehr abwerfen, außerdem verdiene er selbst auch kein Vermögen und arbeite hier schon eine ganze Weile, aber er lebe ja wohl noch etc. Das ging eine Weile hin und her, Zoran redete immer leiser, heiser flüsternd, Zlatan widersprach immer wütender, immer betrunkener und immer weniger erkennend, dass er keinen Erfolg haben würde. Irgendwann nach dem dritten Karlovačko war er dann verschwunden, ich hatte ihn nicht gehen gehört, Zoran hatte Musik eingeschaltet, weitere Gäste waren gekommen. Und entschuldigte sich bei mir. Ob Zlatan vor diesem Nachmittag in der Bar etwas zugestoßen wäre, sagte er leere Flaschen abräumend, ob er am Vormittag in der Bar allein geblieben sei wie mehrfach in den vergangenen Tagen, ihm etwas hartnäckig durch den Kopf gegangen sei und er seither so gesessen und laut geredet habe; dass er eigentlich zur Nachmittagsschicht hätte arbeiten sollen, sich offensichtlich vorher ausgiebig betrunken hatte und sich strikt geweigert habe zu arbeiten, dafür lieber laut reden wollte; dass er wahrscheinlich noch vom vergangenen Abend reichlich Restalkohol mitschleppte, weil da wohl etwas geschehen sei, dass er nicht anders verkraftete als sich vollkommen zu betrinken; ob er von einigen Freunden oder Bekannten zu seinem Redefluss angestiftet worden war oder ob er ganz allein so handelte oder einige weitere Möglichkeiten, die ihn dazu gebracht hatten, in der Bar zu sitzen und laut zu reden, das könne er sich nicht eindeutig erklären. Deutlich genug ist, dass Zlatan da saß und seinen Frust bei ihm, Zoran, habe abladen wollen, er ihm aber nicht helfen könne. Allmählich füllte sich die Bar, Zoran sah müde aus.

- Wie hätten Sie an seiner Stelle reagiert?
- Prinzipiell ähnlich, vermutlich. Allerdings ist das prinzipiell unerheblich.
- Vermutlich. Sie sind lieber auf der Seite der Unterlegenen?
- Nicht zwangsläufig, in diesem Fall gefällt mir die Verzweiflung des jungen Mannes.
- Arrogant, Gefallen an jemand anderes Verzweiflung zu finden.
- Ebenso, das Verhalten des jungen Mannes zu verurteilen.
- Halten Sie verzweifelte Betrunkenheit für eine gute Strategie bei Lohnverhandlungen?
- Nennen Sie für diesen Fall überhaupt eine erfolgversprechende: Keine Lobby, jederzeit ersetzbar, ein Bittsteller, augenscheinlich am kürzeren Ende des Hebels. Ja nicht einmal bei der richtigen Anlaufstelle vorstellig.
- Eine andere Verhaltensvariante wäre zum Beispiel, die unzureichende Bezahlung als ein Immerhin zu akzeptieren. So wäre ihm sein bisheriger Lohn geblieben.
- Das war offenkundig die Ausgangslage vor dem Gespräch, ein Zustand des Mangels.
- Aber dass er geschrieen und seinen Vorgesetzten beledigt hat, ist folgerichtig nicht zielführend. Zudem höchst unsympathisch.
- Zweifellos, aber geht es hier um Sympathien oder um Geld?
- Um einen jungen Mann, der Gesprächskonventionen nicht eingehalten hat.
- Dass dies nicht der Fall war, ist wohl rebellisch zu nennen.
- Was eigentlich ist an diesem Vorfall so unbedeutend?

Nach Bekanntwerden von Zlatans Auftritt entstand bei einigen Gästen der Bar und Ivicas Freunden die Meinung, dass dies nicht Zlatans erster betrunkener Arbeitstag in der Bar gewesen sein konnte. Einige erzählten Ivica, sie erinnerten sich an Abende, an denen er gemeinsam mit Gästen Bier und Rakija getrunken, sich mit ihnen verbrüdert habe und schließlich, den schweren alkoholischen Nebeln in den engen Räumen seines Schädels geschuldet, die Kasse nicht ordnungsgemäß abgerechnet habe. Andere erinnerten sich lautstark an Zlatan als einen sehr launischen und unberechenbaren Menschen, andere an ihn überhaupt nicht. Später erinnerte man sich an einen Tag, an dem er ein volles Tablett hatte fallen lassen, ja es sogar absichtlich in einem Zornesausbruch zu Boden geworfen habe. Ivica hörte vom Thresen aus zu, sagte nichts, trank eine Rakija auf Ljiljanas Schönheit, nachdem diese sich die Lippen frisch geschminkt hatte. Zoran arbeitete viel und schlief augenscheinlich schlecht. Der Vorfall mit dem Tablett verbreitete sich unter den weniger werdenden Gästen der Bar und wurde zu einer sehr blutigen Episode ausgeschmückt, in der einige männliche Gäste von Zlatan, betrunken, mit zerbrochenen Bierkrügen attakiert worden waren und schockierte junge Damen mit von herumfliegenden Glasscherben aufgeschnittenen Waden und Händen in die Notaufnahme gebracht werden mussten. Zlatan habe zudem, solange man sich erinnern könne, immer leicht bis schwer angetrunken seine Arbeit verrichtet und stets zu jähzornigen Ausbrüchen geneigt. Ivica wusste, dass er handeln musste, als Ljiljana von diesen Erzählungen angesteckt wurde. Sie hatte einen ganzen Abend die Geschichten wiederholt und ihm einen unkonzentrierten Orgasmus bereitet, dass er missgelaunt eingeschlafen war.
Zoran schwieg zu diesen in endlosen Wiederholungen ausgebreiteten Augenzeugenberichten. Ivica saß in einer dunklen Ecke der Bar und ließ seine Freunde sprechen, die die in den letzten Wochen geringeren Einnahmen der Bar beklagten, wofür es Gründe geben müsse. Ljiljana saß nervös an der Theke und rauchte. Zoran sagte lediglich aus, dass er sich an das Geschilderte so nicht erinnern könne, ebenso wenig an grundsätzliche Beschwerden über Zlatan seitens der Gäste vor dem fraglichen Nachmittag.
Ivicas Freunde, mit denen er mehrere Bars in Osijek aufgebaut hatte und diese gegen die Konkurrenz verteidigte, schauten sich einige Sekunden an. Schließlich sagte Ivica, auf seinen Gehstock gestützt, langsam, dass es ihn nicht interessiere, was vorgefallen war und was nicht, dass das endlose Gerede aufzuhören habe und dass seine Entscheidung feststünde. Zlatans trunkene Arbeitsweise galt auch Wochen nach seiner Entlassung als einer der Hauptgründe für die abnehmenden Einnahmen der Bar.

Zoran sah Zlatan nach diesem Nachmittag nicht wieder. Zwei Wochen später wurde probehalber ein neuer Kellner für das Triton eingestellt: Vedran.




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© sascha preiß 2008