VEDRAN - Eine Osijeker Chronik


[Für eine Handvoll türkischer Erde]

Jugoslawien in den 70er Jahren. Der junge Osijeker Wissenschaftler Vlado O. erhält die Möglichkeit, zu einem germanistischen Kongress in die Bundesrepublik Deutschland zu reisen. Voller Erwartung fährt der naturliebende Germanist in die ihm unbekannte, westliche Welt. Doch auch hier kann er sich nicht frei bewegen, nach dem Ende der bundesdeutschen Hallstein-Doktrin1 hat der jugoslawische Geheimdienst auch im Ruhrgebiet seine Zugriffsmöglichkeiten optimiert. Allerdings ist der junge Wissenschaftler kein antijugoslawischer Dissident, sondern etwas, was beim Staatsschutz ein romantischer Träumer heißt. Von den Auftragsmorden im freien Europa erfährt er nichts.2 Statt dessen referiert er über Karl May, den Lieblingsautor seiner Jugend, und denkt zurück an seine Orientfahrten und die staubigen Tage im wilden Kurdistan. Entgegen seiner Erwartung ist der junge Wissenschaftler von den bundesdeutschen Städten nur mäßig begeistert, das Reisen quer durch die weite Türkei bis hin zum Hindukusch faszinieren ihn weit mehr als ein Einkaufsbummel in der funktionalistisch kühlen Fußgängerpassage Essens. Er kehrt zurück und sofort erkundigen sich Mitarbeiter des Geheimdienstes nach seinen Erfahrungen im bundesdeutschen Westen. Eine Frage ist für die Staatsschützer von besonderer Bedeutung: Welchen Staat bevorzugen Sie, Herr O. – die BRD oder die DDR? Eine für Staatssicherheitsdienste typische Fangfrage: Jeder sozialistisch aufgeklärte Bürger Jugoslawiens muss die kapitalistische BRD als inakzeptabel ablehnen, ebenso aber auch die DDR, denn diese ist wichtigster Bestandteil des Blocks moskautreuer Staaten, denen das Jugoslawien Titos 1948 entsagte. Die korrekte Antwort? Ohne zu überlegen antwortet der Wissenschaftler: Ich verkaufe Ihnen beide Staaten – für eine Handvoll türkischer Erde.




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1) Nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Sowjetunion wurde im Dezember 1955 in Bonn die außenpolitische Handlungsweisung der Adenauer-Regierung verkündet, nach der einzig die BRD im Ausland als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches das deutsche Volk vertritt, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch Drittstaaten als "unfreundlicher Akt" (acte peu amical) betrachtet wird und daher zu Konsequenzen in den diplomatischen Beziehungen mit diesen Drittstaaten führt. Angewendet wurde die fälschlicherweise nach dem Sekretär im Auswärtigen Amt 1951-58, Walter Hallstein, benannte Doktrin lediglich im Falle Jugoslawiens 1957 und Kubas 1963, zu denen die politischen Beziehungen abgebrochen wurden. Nach 1969 wurde diese Doktrin im Zuge der Neuen Ostpolitik Brandts wieder aufgegeben.

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2) "Dass bisweilen Mördertrupps von Titos Geheimdienst UDB im Westen unterwegs waren und dort Regimegegner töteten, kam zwar in den Medien, hatte aber keine größeren politischen Folgen. Eine ganze Reihe von kroatischen Exilpolitikern ist von diesem Geheimdienst ermordet worden. Von 109 bekannt gewordenen Morden und Entführungen haben 56 in der Bundesrepublik stattgefunden. Die meisten Mordaktionen wurden nach 1966 festgestellt, ihren Höhepunkt erreichten sie in den 70er Jahren. Tito hat die Reformbewegung des "Kroatischen Frühlings" von 1971 als eine ernste Bedrohung seines jugoslawischen Staatssystems empfunden. Er ließ einige der Protagonisten verhaften [z.B. Franjo Tuđman, auf diese mehrjährige Haftstrafe gründete sich sein Ruf als aufrechter Kroate, A.d.V.], andere trieb er ins Exil [...]." Richard Wagner: Der leere Himmel, Berlin 2003.

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© sascha preiß 2008