VEDRAN - Eine Osijeker Chronik


[Der Eskimo]

Mitte Juni 2007 fanden in Kroatien Wahlen für die Minderheitenvertretungen der jeweiligen Verwaltungsbereiche Kroatiens statt. Jeder kroatische Staatsbürger konnte sich für diese Wahl als Angehöriger einer ethnischen Minderheit deklarieren und aufstellen bzw wählen lassen. Die Deklaration stellt eine schriftliche Vereinbarung ohne jegliche Dokumentation der realen Herkunft des Deklarierten dar. Trotz aller Simplizität dieses Vorgangs zur Selbstdeklaration ethnischer Zugehörigkeit kann es zu nicht unerheblichen Verwirrungen führen, wenn man nach bestem Wissen und Gewissen tatsächlich angeben möchte, welcher Minderheit man in realita angehört. 3 Fragen sind während des Deklarationsprozesses zu beantworten:
  1. Welche Staatsangehörigkeit besitzt man? (Als Inhaber eines kroatischen Passes ist hier kroatisch anzugeben.)
  2. Welche Nationalität besitzt man? (Als Angehöriger etwa der offiziell anerkannten deutschen Minderheit Kroatiens ist hier deutsch anzugeben.)
  3. Welche Muttersprache spricht man? (Als ursprünglich in Novi Sad oder Beograd aufgewachsener Mensch ist hier serbisch anzugeben.)
Fügt man alle drei Antworten zusammen, ergibt sich ein außerordentlich komplexer und gar nicht einmal seltener Fall: Ist die solcherart deklarierte Person nun kroatischer Deutscher oder kroatischer Serbe, denn Muttersprache und Nationalität haben im Deklarationsverfahren gleich großes Gewicht ohne Hinweis darauf, was im betreffenden Fall vorzuziehen sei. Außerdem stellt sich für die die Minderheiten anerkennende kroatische Behörde eine nicht unwesentliche Frage: Wie gelangte ein serbisch sprechender Deutscher an einen kroatischen Pass und mit welcher Begründung steht ihm dieser immer noch zu?
Um den Behörden den Arbeitsalltag noch weiter zu verwirren, deklarierte sich im Dorf Lug, etwa 15km nördlich von Osijek gelegen, ein älterer Mann nach seinen Vorlieben, um ebenfalls einer ethnischen Minderheit in Kroatien anzugehören. Das unscheinbare Dorf beherbergt seither einen in Kroatien lebenden Eskimo. Für die nächsten Wahlen hat er außerdem angekündigt, dass er als kroatischer Eskimo der Volksgruppe der Palästinenser oder Bolivianer beitreten möchte. Es bleibt der Phantasie des Lesers und des kroatischen Volkes überlassen, welchen Ausgang die kommenden Wahlen für die Minderheitenvertretungen haben werden.

- Es ist also vorstellbar, dass sich vor der nächsten Wahl die Mehrheit der Kroaten als Eskimos oder Pygmäen deklarieren?
- Vorstellbar, aber nicht wahrscheinlich. Lediglich eine sehr kleine Minderheit, die selbst keine Ethnie ist, deklariert sich inkorrekt.
- So ist es vorrangig dem starken Nationalgefühl – bei bleibender schwacher administrativer Begründungspflicht – zu verdanken, dass in Kroatien tatsächlich noch Kroaten leben?
- Mit Blick auf diese spezielle Wahl, die einen untergeordneten Status in Kroatien hat, ist das ganz sicher so. Nicht vorstellbar hingegen sind die Auswirkungen, sollten sich tatsächlich eine ausreichende Anzahl Kroaten als Deutsche, Eskimos oder Inkas deklarieren. Dem Land käme auf diese Weise sein eigenes Volk abhanden.
- Trotzdem bleibt die ethnische Deklaration eine schriftliche Vereinbarung ohne Nachweispflicht, vergleichbar einem Handschlag?
- Vertrauen als Grundlage sozialer Interaktion wird in Europa unterschätzt. Stellen Sie sich den administrativen Aufwand vor, der betrieben werden müsste, um jeden kroatischen Bürger juristisch einwandfrei seiner Ethnie zuzuordnen. Bei 4,5Mio kroatischen Staatsangehörigen in Kroatien und noch einmal so vielen im Ausland ein enormes Unterfangen, diesen allen ihre Ethnie nachzuweisen. Nach der Volkszählung 2001 sind in Kroatien Angehörige 24 verschiedener Ethnien bekannt, die sich je selbst zuordnen konnten. Der Aufwand einer stichhaltigen Überprüfung steht in keinem Verhältnis zu deren Ergebnis.
- Wirkt sich die Zugehörigkeit zu einer oder mehrerer Ethnien – als kroatischer Staatsbürger serbischer Nation zählt man automatisch sowohl zur serbischen als auch zur kroatischen Ethnie – auf die Vergabe von Pässen aus?
- Doppelte Staatsbürgerschaften sind in Kroatien – wie im gesamten exjugoslawischen Raum – keine Seltenheit, lediglich bosnische Kroaten, die während oder nach dem Krieg ins Land kamen, verloren ihren bosnischen Pass, dies jedoch mehrheitlich freiwillig, da mit dem kroatischen Pass eine Reihe von Privilegien verbunden waren wie etwa die Auszahlung einer kriegsbedingten Entschädigung. Dass hingegen der Eskimo von Lug auch einen dänischen Pass erhalten könnte, ist unwahrscheinlich.
- Welchen Pass würden Sie dieser jungen Frau ausstellen, einem Fall aus dem Spielfilm „Berlin is in Germany“: Mutter aus Skopje/Mazedonien, Vater aus Kiew/Ukraine, geboren in Beograd/Serbien, in Zagreb/Kroatien aufgewachsen, dann nach Wien gegangen, jetzt in Berlin lebend?
- Da jugoslawische Pässe nicht mehr existieren, bleibt es der jungen Frau vorbehalten, sich für einen Pass ihrer Wahl zu entscheiden. Der Film gibt über ihre Staatsangehörigkeit und ihre Nationalität(en) keinen Aufschluss, auch wenn sie einen deutlichen wienerischen Akzent spricht. Allerdings bleibt für diesen nicht untypischen Fall zweifelhaft, ob ein Pass die „ethnische Biografie“ einer Person korrekt abbilden kann. Die einfachste und komplizierteste Lösung zugleich wäre es, die gesellschaftlich-kulturelle Einrichtung eines Passes generell abzuschaffen.
- Als logische Konsequenz daraus würden u.a. die kroatischen Minderheitenwahlen und das vorausgehende Deklarationssystem für ethnische Minderheiten verschwinden.
- Was dann auch so skurrile Fälle wie den Eskimo in Lug verhindern würde.




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© sascha preiß 2008