VEDRAN - Eine Osijeker Chronik


[Tomislav bewirkt eine Depression]

Tomislavs bester Freund Jovan sagte gegen 15.32 Uhr Ortszeit am Dienstag, den 22.05.2007, im herrlichsten Sonnenschein, am Flussufer sitzend, bei Kaffee und Wasser, in die weite, helle, schwitzend heiße Ferne, die sich hinter dem Fluss bis über den vollständig einsehbaren Horizont ausbreitete, kein Vogel am Himmel, kein Lüftchen, eine unbedeutende Anzahl Passanten, keine Gäste im Café: AM NACHMITTAG WIRKT DIE STADT EIN BISSCHEN GELÄHMT. Tomislav schwieg und auch Jovan schwieg wieder. Zutreffende Bemerkungen bewirken bei Tomislav sofortige Stille. Sofortige Stille bewirkt in Tomislavs Stadt Regen und hängende Mundwinkel.

Vor wenigen Tagen hatte Tomislav Besuch aus Deutschland. Der Besuch sagte: EINE SCHÖNE STADT, MAN KANN HIER DEPRESSIV WERDEN. Tomislav konnte das noch mit einem Lächeln kontern und verwies etwas zu laut auf die depressiven Orte in Deutschland.

- Auffällig, dass Tomislav sich in die Rhetorik geschubster Hunde flüchtet: Bellen und Knurren.
- Aber doch im Stil eines Entertainers, der über jede Wahrheit Lächeln kann.

Das aufgrund Jovans Bemerkung einsetzende tiefe Schweigen Tomislavs bewirkte einen einsetzenden Hagelsturm. Für Tomislav der meteorologische Beweis urbaner Depression. Diese Koinzidenz lässt Tomislav sehr an der Wahl seines Wohnortes zweifeln. Im Grunde weiß er, dass er nicht länger wird hier leben können. Doch so lange er es nicht ausspricht, wird a) es weiter regnen und b) er weiter schweigen.

An einem Dienstag im Mai

Kleine Auswahl von Rezensionen, die sich auf das Delius-Wetter berufen:

a) „Es gibt ein Buch mit dem Titel Der Held und sein Wetter, in dem es darum geht, wie und warum sich Wetterbeschreibungen in Romanen als Hinweis auf die psychische Verfassung des Helden verstehen lassen. Auch in Filmen existiert dieser Zusammenhang, oft ist er sogar noch viel deutlicher als im Roman: Wenn es regnet ist das z.B. ein sicheres Indiz dafür, dass der Held schlechte Laune hat oder etwas tüchtig in die Binsen gegangen ist. Man kann den Spieß aber auch umdrehen. Gegeben sei der Held, gesucht wird sein Wetter...“ [Tim Loppe über Pelle Carlberg In A Nutshell]

b) „Sollte einmal eine Geschichte der Zweiten Republik geschrieben werden, die die österreichischen Printmedien als Quelle benutzt, wird eine metereologische Langzeitstudie herauskommen.“ [Robert Menasse über Österreichs Politik]

Das erwähnte Buch (mittlerweile vergriffen)
- Friedrich Christian Delius hat 1971 in der Untersuchung Der Held und sein Wetter den Zusammenhang zwischen Wetter und Figurenstimmungen im Roman des 19. Jahrhundert untersucht.
- Die meteorologische Psychologie der Städte und ihrer Bewohner stellt hingegen eine Neuerung dar.
- Sie kennen diese Stadt?
- Ich habe sie bei Regen und Sonne durchfahren. Ein Lob auf den Erfinder der Klimaanlage.




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© sascha preiß 2008