VEDRAN - Eine Osijeker Chronik


[Tomislav fragt sich]

Tomislavs Freund Jovan erzählt, wie er gestern in der Kneipe gesessen habe. Ihm gegenüber habe ein Typ mit vielen Tattoos und einem T-Shirt am Tisch gesessen. Beide haben sie Bier getrunken. Jovan habe den die ganze Zeit angeschaut, aber nur so, dass der andere sich nicht belästigt gefühlt hätte, der habe nämlich sehr brutal gewirkt. Und natürlich hätten sie nicht miteinander geredet. Statt dessen habe sich Jovan die ganze Zeit, während er den Typ an seinem Tisch, Bier trinkend, anschaute, gefragt, warum er eigentlich hier sitze. Mit in etwa folgendem Wortlaut habe er sich das gefragt: „Warum sitze ich mit einem Menschen am Tisch, der übern ganzen Unterarm ein U tätowiert und ein T-Shirt hat, auf dem irgendwas von VUKOVAR steht, mit einer Fahne drauf, die ein rot-weißes Schachbrettmuster im Wappen zeigt, das links oben mit weiß beginnt? Weil heute 15-Jahr-Feier von OLUJA ist und auch in jedem Haus eine Fahne – mit rot beginnend – hängt? Juhu.“ Jovan schaut Tomislav fragend an.

Ustaša-Symbole an einer Osijeker Kneipe

U = Ustaša: „Die Ustaša [dt. „die Aufständischen“] wurde 1929 vom Anwalt Ante Pavelić gegründet. Ihr Ziel bestand in der Loslösung Kroatiens vom jugoslawischen Staat, das sie zunächst mit Terroranschlägen durchzusetzen versuchte. Im Zweiten Weltkrieg erhielten sie Unterstützung vom faschistischen Italien ebenso wie vom Deutschen Reich. Am 10. April 1941 verkündete Pavelićs Stellvertreter Slavko Kvaternik den Unabhängigen Staat Kroatien, zu dem auch große Teile Bosniens und Herzegowina gehörten. Regierungschef wurde Pavelić. Die Ustaša errichtete während des Kriegs – unterstützt von den Deutschen – eine Schreckensdiktatur mit Konzentrationslagern und Massenmorden an Hunderttausenden. Orthodoxe Klöster wurden geschlossen und zerstört, die serbische Sprache und kyrillische Schrift verboten. Rechtsradikale Gruppierungen, etwa die Kampftruppe HOS der Kroatischen Partei des Rechts, zeigen heute ihre ideologische Nähen zur Ustaša durch das Tragen von schwarzen Uniformen und Ustaša-Emblemen.“ (nach: P. Köpf, Stichwort Osteuropa. Völker und Staaten, München 1994, S. 58.) Die offizielle Flagge des Ustascha-Staates zeigte ein rot-weißes Schachbrettmuster, das links oben mit weiß begann, während das Muster im Zentrum der Flagge des heutigen kroatischen Staates links oben mit rot beginnt.

Pro-Ustaša-Graffiti in Osijek 2007: "Hirten, für die Heimat bereit!"
Vukovar ist eine Stadt in Ostslawonien an der Grenze zur Vojvodina in Serbien, sie liegt am Zufluss der Vuka in die Donau. Die ursprünglich multiethnische Stadt stand im Zentrum des Kriegsbeginns zwischen Serbien und Kroatien 1991 und wurde nach mehrmonatigen schweren Kämpfen am 18. November 1991 von der angreifenden Jugoslawischen Volksarmee eingenommen. Vukovar wurde dabei fast vollständig zerstört. Sowohl von serbischer als auch kroatischer Seite wurden während der Kämpfe schwere Kriegsverbrechen und Massaker an der Zivilbevölkerung begangen. „Serben wurden von den HOS-Milizen hingemetzelt, die kroatische Zivilbevölkerung an der Flucht gehindert. Sie kam im Bombenhagel der Belagerer um. Zurück blieben Häuserruinen mit verkohlten Leichen – Schreckensbilder eines Krieges.“ Die nach wie vor schwer zerstörte Stadt gilt als Symbol für den Opferstatus Kroatiens. Gleichzeitig weiß man auch in Kroatien, dass die kroatische Militärführung eine „Inszenierung mit tausenden Toten“ mitbefehligt hat, um ein drastisches Bild serbischer Gräueltaten zeichnen zu können. (nach: Hannes Hofbauer, Spuren des Krieges: "Früher arbeiteten hier viele Menschen". Herbstreise durch das ehemalige Jugoslawien, In: junge welt, 9./10.Nov.2006.)

Granateneinschlag und Aufschrift eines Fußballfanclubs mit Hakenkreuz
Operacija Oluja („Operation Sturm“) war eine Militäroperation in der Endphase des domovinski rat, des jugoslawischen Bürgerkrieges 1991-95, mit dem Ziel der Rückeroberung der serbisch besetzten Krajna-Gebiete in Kroatien. Die Operation begann am 4. August 1995 und endete vier Tage später. Noch vor Beginn und während der Militäroffensive flüchteten 200000 Menschen aus den umkämpften Gebieten, mehrere hundert serbische Kroaten starben. Die Operation gilt als kroatisch initiierte „ethnische Säuberung“ und Vergeltung für Besetzungen und Vertreibungen durch die serbisch dominierte Jugoslawische Volksarmee 1991 an gleicher Stelle. Aufgrund der Operacija Oluja wurden in Den Haag die Generäle Ivan Čermak, Mladen Markač und Ante Gotovina wegen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung angeklagt. Čermak und Markač wurden ausgeliefert, Gotovina tauchte ab und wurde erst im Dezember 2005 auf Teneriffa verhaftet. Er gilt nach wie vor in weiten Teilen der Bevölkerung Kroatiens als Held. In Erinnerung an die Operacija Oluja ist der 5.August in Kroatien ein nationaler Feiertag, der Dan domovinske zahvalnosti, der „Tag der heimatlichen Dankbarkeit“.

"Gotovina ist ein Held!" als Parole auf einem Werbeplakat
- Da bin ich aber dankbar für die Hintergründe. Man muss viel wissen, um diese kleine Episode verstehen zu können.
- Ja, die Dinge betreiben einen ganz schön großen Aufwand für ein mal in der Kneipe sitzen.
- Biertrinken wird manchmal grausam, wenn man die Embleme ringsum lesen kann.
- Und jetzt stellen sie sich den unglaublichen Zufall vor, dass diese drei Dinge U, Vukovar und Oluja auf einem Körper zu liegen kommen, der eine solche Kombination in ihrer Spezifisch kroatischen, brutalen Dimension nicht kennt: das U ist der Anfangsbuchstabe seiner geliebten Frau, die möglicherweise Ulrike heißt; ein Vukovar-Shirt trägt er, weil es ihm einmal von einem Freund aus Vukovar mitgebracht wurde; und das Wort Oluja taucht auf, weil er Fan einer jugoslawischen aufnahme von Tschaikowskis Orchesterfantasie „Der Sturm“ ist.
- Halten sie das wirklich für möglich?
- Jedenfalls nicht für unmöglich.
- Aber auch dann müsste man für die Dinge eine Erklärung finden, sei sie noch so unplausibel.
- Sie meinen, man müsste sich fragen, ob und was das zu bedeuten habe?
- In jedem Fall, andernfalls könnte das Friedliche grausam werden und das Grausame zu düsterem Alltag wie in der Kneipe.

Tomislav schaut fragend drein. Er fragt sich, warum Jovan eigentlich da saß. Es ist eine gute Frage, die verschiedene Implikationen haben könnte wie: Aus welchem Grund hat Jovan dort gesessen? Hätte er auch woanders sitzen können? Musste Jovan ausgerechnet dort sitzen? Welches Schicksal / Zufall (je nach Konfession bitte ankreuzen) hat sowohl ihn als auch den Typ gemeinsam an den Tisch geführt, den Typ mit Tattoo und Shirt, Jovan jedoch ohne? Warum ist Jovan überhaupt in die Kneipe gegangen? Und der Typ? Hätte sich Jovan auch hinstellen können und den Typen so nicht beachten brauchen? Musste Jovan so starren? Im Grunde jedoch will Tomislav nur fragen: Warum, warum, warum? Und er will keine Bedeutungen wissen und schon gar keine Antworten hören. Ledigleich ein großes breites farbloses Mantra eines einzigen Wortes. Schleunigst begeben sich Tomislav und Jovan in die Kneipe, setzen sich, schauen still vor sich hin und fragen sich mit jedem Schluck: Warum?




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© sascha preiß 2008