VEDRAN - Eine Osijeker Chronik


[Tomislav setzt sich auf einen Picasso]

Tomislav braucht eine Pause. Er begibt sich kurzerhand zum Fluss. Dort ist ein Café im Schatten eines nicht sehr monumentalen Picasso-Standbildes. Eigentlich ist es ein Sitzbild. Picasso, etwas untersetzt wirkend, hält die Arme vor sich ausgestreckt und sitzt wie ein Badender am Beckenrand auf einem Sockel. Picasso hat enorm große Hände, allerdings nur vier Finger pro Hand, die aussehen, als ob sie Schwimmhäute hätten. Tomislav trinkt einen Kaffee und schaut dem Fluss beim Fließen zu. Baden möchte Tomislav nicht. Er möchte auch keine Schwimmhäute. Warum Picasso wie ein Froschmann aussieht, weiß er nicht. Bisher konnte ihn noch niemand darüber aufklären.

1. Tito war ausgesprochener Kunstliebhaber und Verehrer der revolutionären Kunst Pablo Picassos. Um Titos Kunstgeschmack zu ehren, errichtete ein Osijeker Künstler in den 80er Jahren in Osijek am Ufer der Drava eine Picasso-Statue. Urspünglich sollte dieser bronzene Picasso auf einem picassoesken Stuhl sitzen und die titosche Geborgenheit in Jugoslawien ausstrahlen, daher die ausgebreiteten Arme. Doch der Stuhl verschwand zeitgleich mit Titos Stuhl im bosnischen Bihać, auf dem dieser dereinst die Kampfstrategie der Partisanen gegen die deutschen Nazis beschloss – während des letzten Jugoslawienkrieges. So landete Picasso auf einem Steinsockel.

2. Osijek ist eine Stadt mit relativ reicher Kunsttradition. Um diese Kunsttradition, die sich vorwiegend in habsburgischer Baukunst und Jugendstilfassaden ausdrückt, wegweisend in die Zukunft zu verlängern, als Wendung ins unaufhaltsam Moderne, errichtete der Osijeker Stadtrat noch zu Picassos Lebzeiten eine beschwörende Statue des Begründers der modernen Kunst. Picasso, gemäß seiner Funktion als künstlerischer Visionär, schaut seitdem in Fließrichtung der Drava, ein Sinnbild ohnegleichen.

3. Picasso besuchte einmal Südtirol. Aus übergroßer Verspieltheit setzte er sich in einen kleinen Gebirgsbach und badete. Das Wasser war kalt und Picasso glücklich. Ein junger kroatischer Mensch beobachtete ihn, wie der enorme Künstler kindgleich in den Quellen der Drava planschte. Aus Verehrung seiner Heimatstadt Osijek und des Flusses, an dem diese als letzte kroatische Stadt liegt, gestaltete er ein Denkmal, der den großen Augenblick des europäischen Künstlers und des europäischen Flusses vereinigend festhält.

4. Im alljährlichen Turnus der Denkmalseinweihung in einer jugoslawischen Stadt war Mitte der 80er Jahre wieder einmal Osijek dran, ein Denkmal zu enthüllen. Die Stadtväter hatten beraten, welchen regionalen Helden sie eingeweiht wissen wollten. Die Wahl fiel auf Gaspar Korogy, Sohn des Ban Iwan Korogy, welcher die Stadt zu hoher wirtschaftlicher Blüte führte (eigentlich ausbeutete). "Der junge Nachfolger des Ban Korogy, Gaspar Korogy, fiel Anfang des 16. Jahrhunderts bei einer Schlacht gegen die Türken und stellt somit den letzten freien Osijeker Widerstand gegen die osmanische Besatzung dar." (Begründung des Stadtrates) In der Zagreber Verwaltung der jugoslawischen Teilrepublik Kroatien hatte man jedoch diese Begründung aufgrund einer Schlamperei übersehen und schickte ein Picasso-Denkmal in die Hauptstadt Slawoniens, welches daselbst zwar enthüllt, doch auf einen bedeutungslosen Standort verbannt und trotzig vergessen wurde.

5. Dem Osijeker Bildhauer Ivan Sabolić fiel Anfang er 80er Jahre das berühmte Foto Picassos in die Hände, das ihn am Frühstücktisch sitzend zeigt, die Arme herabhängend, auf dem Tisch dafür sehr große vierfingrige Hände aus Brot, als seien es die tatsächlichen Hände des Künstlers. Sabolić erarbeitete aus Begeisterung darüber eine Plastik des Künstlers, am Frühstückstisch mit eben diesen Händen sitzend, allerdings ohne den Tisch, die Brothände nun mit seinem Körper durch Arme verbunden. Er schenkte die Plastik seiner Stadt und die stellte es einfach mal am Fluss auf, ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen.

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Tomislav erwacht aus seinen Überlegungen. Der Kellner scheucht ihn auf und räumt die Stühle und Tische beiseite. Der Schein der Nachtbeleuchtung weist in alle Richtungen der Uferpromenade. Picasso jedoch spart er vollkommen aus. Tomislav will noch etwas sitzen. Am liebsten neben dem bronzenen Künstler. Es gibt jedoch nur einen Sockel und der ist besetzt. Tomislav setzt sich daher auf Picassos Schultern. Picasso trägt ihn wie seinen Sohn während einer Mai-Demonstration.
Der Hinterkopf hat ein Loch. Eindeutig ein Einschuss. Ein serbischer oder kroatischer Schütze muss Picasso für einen kroatischen oder serbischen Soldaten gehalten und sehr gut gezielt haben. Da das Loch nur im Hinterkopf ist, nicht jedoch auch in Picassos Stirn, muss sich die tödliche Kugel noch im Inneren der hohlen Statue aufhalten. Tomislav verspürt allzugroße Lust, diese Kugel eines Tages herauszuholen.

- Angesichts dessen, dass die jugoslawischen Truppen unter serbischem Kommando 1991 von der nördlichen, der Stadt gegenüberliegenden Flussseite anrückten, muss es sich beim Töter der Picassostatue um einen kroatischen Schützen gehandelt haben. Sofern die Statue 1991 getroffen wurde.
- Eine womöglich glückliche Verwechslung. immerhin konnte so ein Mensch durchaus dem sicheren Tod entkommen. Falls er nicht später doch erschossen wurde.
- Halten Sie es für möglich, dass Picasso vorsätzlich erschossen wurde?
- Eine standrechtliche Hinrichtung einer Statue?
- Abwegig in Kriegszeiten ist nicht viel.
- Man hätte sie wohl eher gesprengt. Und außerdem: Was ist ein erschossenes, somit getötetes Denkmal?
- Was ist ein lebendes Denkmal?
- Im Garten der städtischen Kunstgalerie liegt die Statue eines Partisanen auf dem Rücken. In der einen Hand das Gewehr fest im Griff, die andere weist den Weg. Die Statue ist im letzten Krieg von mindestens 10 Einschüssen getroffen. Der 1991 erschossene Partisane, der 1945 den Sieg errang. Ein durchaus interessanter Fall historischer Ironie.
- Doch kein lebendes Denkmal.
- Aber lebendig in seiner Betrachtung.




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© sascha preiß 2008