[VEDRAN - Eine Osijeker Chronik]

[Am Ufer]

Ruhig und friedlich bewegt sich der Fluss durch die weite Landschaft. Er muss sich nicht mühen und nicht plagen, er muss nicht hetzen und keine Schluchten hinab stürzen, wenn er sich durch hohes Gebirge windet. Felsen und scharfe Kanten hat er auf seinem Weg nicht zu fürchten, vor ewigen Zeiten schon ist er ihnen ausgewichen, seither schlängelt er sich unaufgeregt an den Gipfeln vorbei. So fließt er, von den Südtiroler Alpen kommend, unbeschwert, kurvenarm, ohne Eile und Erregung, stets geradewegs bis ins weiteste europäische Flachland, bis nach Pannonien. Ein Fluss, der es geschafft hat, im Herzen Europas zu liegen, in einer Region, die von Blut und Historien vollgesogen ist wie die Seiten der Habsburger Chroniken, und die sich dennoch aller Öffentlichkeit entzieht; der den Großteil seines Weges am Rand von Regionen und politischen Gebilden zurücklegt, an der italienisch-österreichischen Grenze entspringend, zwischen Österreich und Slowenien und auch Ungarn und Kroatien verlaufend, schließlich, wie wäre es anders möglich, sich dem großen Strom Donau ergebend; so liegt die Drava, in der östlichen Herzkammer Europas, abseits, still, bescheiden, über den Rand geflossen und aus allen öffentlichen Sinnen, im weiten toten Winkel des Kontinents, fern ab aller Blicke und Aufmerksamkeit. Hier, in diesem breiten, flachen, pannonischen Irgendwo, wird nichts entschieden und beschlossen, beginnt kaum etwas und endet wenig, gibt es nichts, was das Gleichmaß stören, aus dem Rhythmus bringen könnte. Das Land ist flach und ruhig, darunter jedoch, im Bewusstsein der Bewohner, ist es aufgewühlt und heillos. Ein Café, wie es in Osijek unzählige gibt, liegt am Ufer der Drava, die Terrasse voller Tische und Stühle, die Sonnenschirme bereit zum Aufspannen. Der Kellner, Mitte 30, Veteran des Krieges, wie es in Osijek etwa 2000 dieses Alters gibt, mit dem Wunsch, eines Tages in Paris zu leben, sagt, er kennt niemanden seiner Generation, der ohne Tabletten einschlafen kann.

Die Drava ist ein anspruchsloser Fluss, der einen Weg ohne Hürden durch den Kontinent gefunden hat und sich im Süden des pannonischen Tieflands zur Ruhe zu setzen scheint, wie ein romantisch gemaltes Mütterchen vom Dorfe, das sich am sonnigen Wegesrand von den Strapazen eines sorgenfreien Lebens erholt. Hier liegt er breit und genüsslich in der Landschaft, zwischen Wäldern, Wiesen und manchen vergessenen Dörfern. Hier kann er ausgiebig tun, wozu er den ganzen langen Weg bereits ebenso viel Zeit hatte: selbstverliebt vor sich hin träumen, seine üppig bewachsenen Ufer und angrenzende Tümpel tränken und gemeinsam mit den Wassern seiner kaum lebhafteren Nachbarn Unmengen von Fischen, Fröschen, Vögeln und Mücken gebären. Menschen, Siedlungen, Städte gar hat die Drava kaum zu fürchten. Mögen sich einige an seinen Ufern eingefunden haben, Villach, Maribor, Varaždin, mag die größte von ihnen, Osijek, ganz am Ende des Weges liegen, mag die Drava auch in ihrem letzten Abschnitt nach der ungarisch-kroatischen Grenze schiffbar sein, der Fluss hat es sich behaglich in seinem Bett eingerichtet und sich gemütlich, unaufdringlich in die kleine Welt ringsum eingeschrieben. Mag er auch mehrfach als Grenze von Territorien gedient haben, als am Nordufer das Magyarenreich endete und am Südufer die Könige Slawoniens residierten, später Habsburger im Norden und Osmanen im Süden, und dann wieder Ungarn und Kroaten, mögen seine Ufer als Verteidigungslinien für oder gegen diese Völker verwendet worden sein, als im 17. Jahrhundert die Osmanen vertrieben wurden, sich im 19. und 20. Jahrhundert Ungarn und Jugoslawen, Serben und Kroaten als direkte Nachbarn über den Fluss hinweg beschossen, ebenso in zwei Weltkriegen sich Russen und Deutsche an den Dravaufern als Feinde begegneten, mögen sich die Wasser der Drava so mehrfach, plötzlich, von ungezählten toten Menschenleibern, einem unerwarteten Zuwachs an Biomasse, verfärbt haben, so war er doch nie zu einer notwendigen oder bedeutenden Handelsstraße erkoren und also nachhaltig in seiner Ruhe gestört worden. Womit er durchaus zufrieden ist. Nein, gefürchtet vor den lautesten seiner Uferbewohner hat sich die Drava tatsächlich nie, und wenn doch, so ist diese kleine Furcht ausgewaschen aus seinem Flussbett, weggespült und versunken, ein unkenntliches Sediment. Die Reste vergangener Kriege, Schlachten, Kämpfe und Morde liegen irgendwo in seinen Wassern, verfault, zu Schlamm geworden, vergangen. In dieser Ruhe kann er sich ganz der Beschäftigung widmen, die ihm die angenehmste ist: den Himmel anschauen und nebenbei, wie beim Verdauen nach großen Mahlzeiten, allerlei Lebenwesen hervorbringen, die ihm wie kleine Gedichte scheinen. In Osijek, der letzten Stadt des Flusses, begann der Krieg, der zur Teilung Jugoslawiens führte, als der Polizeichef und sein Stellvertreter, beides Kroaten serbischer Herkunft und Befürworter einer nichtmilitärischen Konfliktlösung, die innerstädtische Verteidigung gegen die sich bereits auf kroatischem Boden befindliche und gegen Vukovar vorgehende jugoslawische Volksarmee organisieren wollten. Nationalistische Kroaten, die unter serbisch geführtem Kommando die Stadt nicht zu verteidigen gedachten, lockten beide in unübersichtliches Gelände, ermordeten sie, warfen die Leichen in den Fluss und übernahmen ihre Posten. Diese und unzählige andere Todesfälle wurden nie aufgeklärt.

Am glücklichsten, zu sich selbst gekommen, scheint der Fluss ganz an seinem Ende, bevor er sich unekstatisch in die Donau ergießt, sich völlig dieser ergibt. Diese Vereinigung ist lange vorbereitet, dreißig Kilometer lang, hektische Entwicklungen sind nichts für den Fluss. Weiträumig haben sowohl Drava als auch Donau den Boden in beider Nähe getränkt, kleinste Nebenadern gebildet, um sich allmählich, behutsam und doch unbedingt einander anzunähern, haben so ein neues Territorium geschaffen, das nur ihnen zum stillen Beisammensein vorbehalten ist. Für die Arbeit an einem Delta zu interesselos, tritt die Drava lieber alljährlich im Frühjahr geräuschlos über die Ufer und lässt ihr ganzes überschüssiges Wasser in der Gegend liegen. Die Donau, zu stolz um an den Geschenken der Nachbarin still vorüberzuziehen, wirft einen Teil ihres eigenen Wassers hinzu, dass sich im zweifachen Nass wild und ungestört allerlei entwickeln kann, auch Menschen sind gestattet. Ein flaches Seegebiet, ein einzigartiges Biotop hat sich so zwischen den Flüssen ausgebreitet: das Kopački Rit. Fischer sitzen an den Ufern seiner Wasserarme, auf der leisen Jagd nach Karpfen, Welsen und Zandern, die abends über offenem Feuer gebraten oder, mit Paprika gewürzt, zu scharfen, blutroten Suppen verarbeitet werden. Doch die vereinigten Wasser von Drava und Donau sind nicht nur gütig, jährlich im Frühjahr spucken sie mit ihren Fluten unzählige Mücken über das gesamte Tiefland aus. Die Dörfer, die Städte noch weit jenseits der Ufer kennen die übergroße Fruchtbarkeit der beiden Flüsse und wissen um ihr Ausgeliefertsein, dass sie den Launen der Flüsse nichts entgegen zu setzen haben. Als ob das Wasser die Toten früherer Jahrhunderte ausspeit, sie wieder freilässt als Mosquitos, die die Lebenden anfallen und sich von ihnen das zu früh erkaltete, vergossene Blut zurückholen. Die Geister von Fäulnis und Verwesung schwirren in der Luft, stürzen sich in den Nächten auf das Land, quälen die Bewohner mit Schlaflosigkeit, Krankheiten, Epidemien. Eine hinterhältige Plage aus einem der herrlichsten Flecken dieses weiten Tieflandes, etwas Diabolisches steckt in jedem Schönen, das eine ist ohne das andere nicht zu haben, zu große Fruchtbarkeit bringt zu viel von allem hervor. Die Drava scheint eine gewisse Belustigung darin zu sehen, die Menschen Ostslawoniens an sich zu binden und sie gleichzeitig zu strafen, beides aus den Launen genüsslicher Selbstzufriedenheit. Denn das sind wohl die besten Herrscher, die zugleich Leben zu geben wissen und die Untertanen nicht zu übermütig werden zu lassen. Der Fluss, in seinen glücklichsten letzten Kilometern, kräuselt sich leicht, schwelgt in Berichten über seine eigene Göttlichkeit, in kitzligen Erzählungen über geheime Wesen seines Gewässers, die den Menschen Glück und Unheil gleichermaßen bescheren, eine unbeherrschbare Macht aus den Tiefen seiner Fluten. Er erzählt sich Geschichten über Seejungfrauen aus dem Rit und elegante Jünglinge mit Schild und Schwert, über die slawischen Flussnixen und Donnergötter, über Helden, Kampf, Tod und Erlösung, während er unter der Brücke nahe der Osijeker Festung hindurchfließt, der Donau entgegen.

Er weiß nicht, dass die Bewohner dieser Stadt Osijek und dieses Landstrichs Slawonien keine Zeit haben, den für sie eher unattraktiven, zu nassen Fluss in Märchen und Feensagen zu verewigen, ihn zu verehren. Zwar schätzen sie seine Wasser und leben einträglich davon, doch scheint ihnen die eigene Arbeit weit wertvoller als die spendable Anwesenheit des Flusses, als dass sie sich abhängig von ihm zeigten und begriffen. Dankbarkeit ist etwas anderes. Die Menschen der Gegend leben von den Erträgen der beiden Flüsse, ebenso von den fruchtbaren Wiesen jenseits ihrer Ufer, Schafe und Hühner, Getreide und Obst und sogar Wein gedeihen, ein zwar harter, sehr heller und trockener Wein, der zu viel Wasser auf zu wenig Sonne gekostet hat, aber immerhin Wein, etwas Dionysisches in der rauscharmen Landschaft. Aber zum Legendären taugt die Drava nicht. Zu wenig bis gar nicht hat man mit ihr ringen müssen, um von ihr leben zu können, zu wenig hat sie die Menschen gefordert, um ihnen eine Parabel aus gnädigen und strafenden Fluten ins Gedächtnis geprägt zu haben. Eine jährliche Häufung lästiger Insekten ist weitaus leichter auszuhalten als die Furcht, in reißenden schlammigen Fluten all seine Habe oder gar sein Leben zu verlieren. Immerhin hat man ihn ins Wappen der Region aufgenommen, was sollte ein Fluss sich mehr wünschen? Denn an wirklichen, gewaltigen, mythischen Überschwemmungen scheint der Fluss kein Interesse zu haben, zu behäbig zieht er seines Weges durch die Landschaft, liegt mehr als dass er sich bewegt. Wasserhochstände lassen sich mit einfachen Dämmen regulieren, Anzeigen der Flusstiefe verraten ein monatliches Schwanken von einem Meter, als würde der Fluss stets ruhig atmen, und zum Ablassen des überschüssigen Wassers hat er sich sein Nordufer gewählt, wo das Kopački Rit liegt, in dem niemand zu dämlich ist, sein Leben aufzubauen. Die Stadt Osijek hat sich dagegen gänzlich unbeschadet am Südufer errichtet und wird dort vom Fluss weitgehend ignoriert, umgekehrt ebenso. In den Historien der Stadt taucht der Fluss nur am Rande auf, als Ort, der einst mit einer Brücke östlich der Garnisionsfestung übergangen, liegengelassen wurde. Zu unbedeutend ist die Handelsstraße Drava, sowohl von West nach Ost als auch von Nord nach Süd. Die Häfen an seinen Ufern sind klein und nicht solche, an die große Märkte grenzen, die Fischer sitzen meist nicht an seinen Ufern, sie angeln im Rit und dort hauptsächlich für eigene Mahlzeiten, wenig stört die Harmonie bewaldeter Ufer, ein paar wenige Fähren liegen bereit. Und außerdem, mit wem sollte man schon Handel treiben. Die Drava fließt nach Osten, nach Serbien, das Land, von dem Kroatien sich blutig trennte, nicht zuletzt am Osijeker Ufer der Drava, als die jugoslawische Volksarmee von Norden kommend hinter den Uferbefestigungen Stellung bezog und die Stadt zehn Monate lang belagerte und beschoss. Mit diesen also will man keinen Handel aufnehmen, schon gar nicht einen so zeitraubend langsamen wie mit Schiffen, und außerdem würde kein lukratives Geschäft dabei entstehen, denn Serbien, aufgrund zweier kostspieliger Kriege, eines europäischen Handelsembargos und einer NATO-geleiteten Bombardierung, ist arm und hat Slawonien wenig zu bieten. Lediglich die Weinbauern entlang des kroatisch-serbischen Donauufers betrachten ihre ostslawischen Nachbarn als Handelspartner, ohne die der slawonische Weinanbau sich nicht entwickeln könnte. Und von Nord nach Süd? Erst jetzt, am Anfang des 21. Jahrhundert, allmählich, wird eine Nord-Süd-Verbindung gebaut, die bald zwei weit entfernte Hauptstädte, Budapest und Sarajevo, miteinander verbinden soll. Die Autobahn, ihr zukünftiger Verkehr überquert dabei den Fluss, kaum dass er wahrgenommen würde. Und die alte Brücke, klein und neu errichtet, nachdem sie im jüngsten Krieg zerstört wurde, gesprengt von Kroaten, damit Serben die Stadt nicht erreichen konnten, dort, wo heute die Festung der Stadt steht, am Südufer, dort stand vor einigen Jahrhunderten eine osmanische Variante, aus Holz, entweder zum Handel mit den Ungarn oder um sie erobern zu können. Doch die Ungarn selbst hatten kein Interesse an der südlichen Dravaseite, ein nasses Ufer im Norden genügte ihnen. Eine Brücke hatten sie jedenfalls nicht errichtet, die mussten die Türken schon selbst bauen, um gen Pécs darüber reiten zu können. Was sie auch taten, in Osijek wollten auch sie nicht bleiben. Dem Fluss war die Bescheidenheit seiner Herrscher nur recht, sein Bett blieb ungestört, er musste sich durch keine steinernern Nadelöhre zwängen und konnte fast schlafend vor sich hin weiterplätschern.




[...zurück...]


© sascha preiß 2008